Arbeit & Stress
Den Begriff „Stress“ gibt es erst seit 1936. Damals begründete Hans Selye die Stressforschung. Heute ist das Wort in aller Munde. Die Arbeit, die Familie, die Freizeit – selbst das Nichtstun empfinden heute viele als stressig. In Experimenten verabreichen sich viele Probanden lieber selbst Stromstöße, als sich der Langeweile des Alleinseins hinzugeben.
Einleitung
Das Phänomen Stress ist freilich nicht neu. Bereits im 19. Jahrhundert wurde von Reizüberflutung, Nervosität oder Neurasthenie gesprochen. Goethe benutzte im Jahr 1800 den Ausdruck „veloziferisches Zeitalter“ – eine begriffliche Mischung von Geschwindigkeit und Luzifer.
Die Stressmenge, der wir ausgesetzt sind, ist heute aber deutlich größer als früher. Dafür
sorgen die technische und soziale Beschleunigung, die alle Lebensbereiche erfasst hat, sowie
die immer kürzere Dauer von Arbeitsverhältnissen und persönlichen Beziehungen.
Entfremdet von uns selbst.
Wir haben immer weniger Zeit, uns an Veränderungen anzupassen. Arbeitsverhältnisse
werden immer unsteter: Großbetriebe tun nur noch so, als ob sie „eine große Familie“ sein
könnten. Der Kontrast zwischen großspurigen, emotionalen Unternehmensleitbildern und
dem nüchternen Arbeitsalltag macht die Menschen zynisch. Wir sind aufgefordert, uns
ständig zu optimieren und fit zu halten, auch für den Arbeitsmarkt. Freizeit und Berufsalltag
verschmelzen, über unser Privatleben sprechen wir in ökonomischen Begriffen.
Unseren Körper betrachten wir als Dauerbaustelle. Schönheit wird zum Karrierevorteil, um
den man sich kümmern muss. Hinzu kommt ein gesellschaftliches Klima, das Zufriedenheit
mit Langeweile gleichsetzt. Jedes erreichte Ziel ist lediglich ein Zwischenschritt auf dem Weg
zu etwas Größerem. Auf eine erfüllte Zielvereinbarung folgt nicht etwa Genugtuung und
Wertschätzung, sondern die nächste Zielvereinbarung.
In diesem Umfeld entwickeln viele keine stabile Identität, sondern spielen täglich mehrere
Rollen. Sie empfinden sich als unecht, heuchelnd und manipuliert – als entfremdet von sich
selbst.
Fehlende Anerkennung macht krank
Wenn Sie sich nur um die Arbeit kümmern und Familie und Freunde vernachlässigen, wird
Ihr Belohnungssystem von der andauernden Anerkennung im Job abhängig. Bleibt diese aus,
geraten Sie in eine sogenannte Gratifikationskrise: Sie messen der Arbeit eine so hohe
Bedeutung zu, dass Sie, wenn die entsprechende Gratifikation ausbleibt, gleich am Sinn des
Lebens überhaupt zweifeln. In dieser Situation ist die Versuchung groß, die eigene
Belastbarkeit erhöhen zu wollen, statt den Stress zu reduzieren
Das kann, gerade bei ärmeren Berufstätigen zu somatischen Beschwerden führen, oder auch
zum Burn-out, gekennzeichnet durch die Symptome Erschöpfung, Selbstentfremdung und
Leistungsminderung.
Burn-Out
„Burn-out“ ist eine neue, nicht unumstrittene Bezeichnung für etwas, das Psychiater als
Depression einstufen würden. Burn-out klingt nicht nach Krankheit, sondern gibt dem
Patienten eine Art Opfer- oder Heldenstatus. So wird verschleiert, dass nicht seine
Anstrengungen die Ursache für die Symptome sind, sondern der falsche Umgang mit
Problemen und die krankheitserzeugenden Arbeitsumstände. Burn-out-Patienten sind eine
lukrative neue Klientel für Therapeuten. Sie weigern sich oft, innere Konflikte als Teilursache
zu sehen.
Therapien zielen meist allein auf Verhaltensänderungen auf individueller Ebene, nicht auch
auf Veränderungen der äußeren Arbeitsbedingungen. Innere und äußere Ursachen sollten
aber beide in den Blick genommen werden; fast immer spielen beide eine Rolle.
Ein Burn-Out kann als Versuch verstanden werden, Anerkennung für jahrelange Arbeit
einzufordern. Heute ist praktisch jeder burn-out-gefährdet. Fast alle Kontakte am
Arbeitsplatz sind als Käufer-Verkäufer-Beziehung gestaltet. Damit geht die Pflicht einher,
immer verständnisvoll und lächelnd aufzutreten.
Weil die Ansprüche steigen, gibt es weniger Dank und Lob als früher. Vor allem in
Sozialberufen sehen die Beschäftigten ihren hohen Einsatz nicht angemessen gewürdigt.
Verschärft wird das Problem durch narzistische Selbstüberschätzung: Viele halten sich für
allzu einzigartig; sie erwarten ungleich mehr Anerkennung für ihre Qualitäten, als ihnen in
der Regel zuteilwird, oder zusteht. Ältere Angestellte wiederum leiden darunter, dass
Jüngere nicht mehr bereit sind, ihre früheren Leistungen zu respektieren.
Wie unser Körper mit Stress umgeht
Positiver Stress
Es gibt positiven Stress, auch Kurzzeitstress oder Eustress genannt. Blutdruck, Herzfrequenz
und Cortisolspiegel steigen: Diese Reaktionen des Körpers können uns helfen, Herausforderungen zu meistern, oder sie lassen uns Spaß empfinden.
Wenn wir ein Ziel erreichen wollen, nehmen wir Anstrengungen nicht als negativ wahr –
etwa das Training, um mal beim Marathon zu bestehen.
Dystress
Negativer Stress oder Dysstress hingegen, ergibt sich aus Belastungen langfristiger Art. Sie sind es, die uns krank machen können. Dysstress äußert sich nicht nur in erhöhtem Adrenalinpegel: Auch das Immunsystem und das autonome Nervensystem sind beeinträchtigt und die Entzündungswerte steigen.
Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf ein und denselben Stressauslöser. Je nach ihren Vorerfahrungen und ihrem Stressbewältigungspotenzial gehen sie verschieden damit
um. Zum Beispiel sind Landbewohner stressresistenter und werden seltener von
Angsterkrankungen heimgesucht als Großstädter. Von den Vorzügen des Stadtlebens, etwa
der kulturellen Vielfalt, profitieren nur die psychisch Robusten, während die anderen vieles
vorfinden, was ihnen Angst macht.
Weil wir auch den Stress anderer mitempfinden können, sind Berufe im helfenden und
psychosozialen Bereich besonders dauerstressgefährdet.
Vom Stress zur Angst und Depression
Angsterkrankungen sind zwar die verbreitetsten psychischen Leiden, werden aber viel
seltener behandelt als Depressionen. Ängste richten sich auf die Zukunft, Depressionen eher
auf die Vergangenheit. Angst blockiert unsere Vernunft. Wer in Panik ist, kann nicht rational
denken. Weil chronische Angst Dauerstress bedeutet, mündet sie oft in Erschöpfung und
Depression.
Ob Phobie, generalisierte Angsterkrankung, Panikattacke oder Depression: Meist werden
diese Krankheitsbilder von Suchtproblemen begleitet. Beim Umgang mit der Angst greifen
viele zu Tabletten, Alkohol oder Zigaretten. Ersatzhandlungen wie „Shoppingrausch“, oder
„Fressattacken“ sind ein weiteres Kennzeichen. Wer als Workaholic der Sucht nach Arbeit
verfallen ist, erntet leider eher Bewunderung als Mitleid. Dabei haben diese Menschen ihrer
Arbeitsfähigkeit grotesk viel Bedeutung eingeräumt – auf Kosten ihrer Genuss- und
Liebesfähigkeit.
Unsere Ängste sind frühkindlich geprägt und tief im Unterbewusstsein und in den
entsprechenden Hirnregionen eingegraben. Auf das Bedürfnis nach Bindung und Sicherheit,
das uns in den ersten Lebensjahren beherrscht, folgt zunehmend die Freude am
selbstständigen Entdecken und damit an der Unabhängigkeit.
Entscheidungsüberlastung
Diese beiden Bedürfnisse begleiten uns ein Leben lang. Sie spiegeln sich in Krankheitsbildern
wider: Die einen fühlen sich eingesperrt (Klaustrophobie), während sich andere in der weiten
Welt oder auch nur auf dem Marktplatz verloren fühlen (Agoraphobie). In den relativ
strukturierten 1960er- und 1970er-Jahren litten viele an klaustrophoben Ängsten. Heute – in
der neoliberalen, freiheitsorientierten Zeit – dominieren agoraphobische Ängste. Die
Menschen sehnen sich nach mehr Sicherheit. Das ist ein klares Zeichen von Entscheidungsüberlastung.
Im Job, empfinden wir vor allem solche Aufgaben als stressig, die hohe Anforderungen an uns stellen, uns aber kaum eigene Entscheidungsspielräume lassen. Eine entscheidende Rolle beim Stressempfinden spielt das Gefühl, alles – oder zumindest viel – unter Kontrolle zu haben.
Je höher der soziale Rang, desto weniger leiden die Menschen unter Stress. Auch wenn Topmanager ebenfalls unter Druck stehen: Auf den unteren Ebenen und in der Mittelschicht haben heute viel mehr Menschen als früher Abstiegsängste und Angst um ihren Arbeitsplatz.
Dass Manager angeblich mehr Stress aushalten müssen, taugt deshalb nicht als Begründung für hohe Boni. Studien belegen: Wer oben sitzt und am Ruder ist, lebt länger. Wer ganz oben sitzt, zeigt wiederum oft für Psychopathen typische Persönlichkeitsmerkmale.
Psychopathen haben keine Angst vor dem, was sie anrichten könnten – offenbar eine Eigenschaft, die sie für die Chefetage qualifiziert.
Merkmale stressresistenter Menschen
Es gibt Kinder, aus denen trotz verkorkstem Elternhaus etwas wird – US-Präsident Bill Clinton
ist ein Beispiel. Studien weisen allerdings darauf hin, dass es für hohe Stressresistenz (Resilienz) eine Vorbedingung gibt: Das Kind braucht mindestens eine positive Bindung an einen Erwachsenen.
Im Fall Clintons waren das die Großeltern. Weitere Merkmale stressrobuster Menschen sind
Humor, Impulskontrolle und Einsichtsfähigkeit, vor allem aber Selbstwirksamkeit – die Überzeugung, sein Schicksal selbst beeinflussen zu können.
Traumatische Erfahrungen zu verdrängen, ist nicht per se falsch: Seit den Anschlägen vom
11. September 2001 ist bekannt, dass es für manche Katastrophenopfer besser ist, wenn sie die Geschehnisse nicht mithilfe von Psychologen aufarbeiten. Arbeit darf nicht mehr das Wichtigste sein.
Arbeitsbezogene Ängste verlieren ihren Schrecken, wenn wir die Arbeit vom Thron stoßen.
Sowohl eine Verkürzung der Arbeitszeit, als auch ein bedingungsloses Grundeinkommen, böten die Möglichkeit, der Arbeit den extrem hohen Stellenwert zu nehmen, den sie in unserer Wettbewerbsgesellschaft hat. Doch zu beidem wird es kaum kommen. Die Menschen sind zu gierig nach mehr.
Arbeitslosigkeit
Einer der bedrohlichsten Stressoren ist die Arbeitslosigkeit: An den Makel, nicht mehr gebraucht zu werden, gewöhnen wir uns nicht, sondern leiden auf Dauer – nicht zuletzt auch, weil wir am sozialen Leben nicht mehr so wie bisher teilnehmen können. Mit der Arbeitslosenrate nimmt die Zahl der Suizide zu. Darum ist es wichtig, dass eine Rezession sozial abgefedert wird. In Schweden und Island senkte das die Suizidgefahr in Krisenjahren.
Was können Sie selbst tun?
Bei der Frage, ob wir unser Verhalten oder lieber die Verhältnisse ändern sollten, gibt es kein Entweder/Oder. Beides ist nötig! Das liegt schon allein daran, dass wir die objektive Realität jeweils subjektiv empfinden. Es kommt also auch auf die „gefühlten Fakten“ an.
Zwar mehren sich die Anzeichen, dass Workaholismus, Selbstoptimierung und neoliberales Gedankengut zunehmend kritischer gesehen werden. Unsere Gesellschaft wird aber kein neues Arbeits- und Lebensmodell erfinden. Statt auf einen „Kapitalismus mit menschlichem
Antlitz“ zu warten, müssen wir lernen, mit dem bisherigen Modell klarzukommen
- Ein erster Schritt ist es, zu akzeptieren, dass der Handlungsspielraum, den Sie als Mitarbeiter haben, eher klein ist. Sie haben nicht alles in Ihrem Leben selbst in der Hand – auch wenn das viele Ratgeberbücher behaupten. Nehmen Sie sich kreatives Abschalten vor. Darunter sind Verhaltensweisen zu verstehen, die Gelassenheit fördern. Folgen Sie dazu der WAHR-Formel. Das Akronym steht für: Warten können, was kommt; Akzeptieren, dass vieles unsicher ist; Horchen auf eigene Empfindungen; Resignieren, aber positiv im Sinne von „sich lösen, befreien“.
- Fragen Sie sich, was es für Sie bedeuten würde, Ihren Job anders als bisher zu sehen. Was verlören Sie, wenn Sie kürzertreten würden – an Geld, Einfluss, Selbstwertgefühl?
- Als Vorgesetzter sollten Sie von Wertschätzung und Authentizität nicht nur reden, sondern auch danach handeln. Grüßen Sie Ihre Mitarbeiter, verteilen Sie Lob, bleiben
Sie bescheiden – sagen Sie zum Beispiel auch mal „Ich weiß es nicht“ oder „Es war auch mein Fehler“, wenn das der Fall ist. So was hören manche Beschäftigte von ihrem Chef nie.
Wie Coaching helfen kann
Wer sich dem Druck der Arbeit nicht mehr gewachsen fühlt, sieht oft in einer Zwangspause (Krankschreibung auf Grund von Überlastung oder „Burn-out“) ein Mittel, sich reparieren oder optimieren zu lassen. Daran ist zu kritisieren, dass die Arbeit ihren hohen Stellenwert behält und die Verhältnisse zementiert werden.
Sinnvoller ist eine selbstreflexive Therapie, ein Work-Life-Balance-Coaching: Statt aus einem widerspruchsfreien Selbst besteht unsere Seele aus mehreren Selbstzuständen (etwa das selbstbewusste, das selbstmitleidige, das aggressive, aber auch das beschämende Selbst).
Diese sollten idealerweise in einem „Parlament der Emotionen“ tagen und zu eine Kompromiss gebracht werden. Ziel des Lernens dieser inneren Konfliktfähigkeit ist die Balance zwischen Autonomie und Beziehungs- und Bindungsfähigkeit.
Autonomie heißt nicht Autarkie: Wir werden niemals völlig von unserer Umgebung unabhängig sein. Sprechen Sie mit einem Work-Life Balance Coach.
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